Christian Hilz

Vom Umgang mit der Fragilität der Stimme aus der Sicht des Gesangspädagogen

Auszüge aus einem Vortrag am Stimmwelten Tag 2013
Veröffentlicht in Vox Humana 10/2017

Die Stimme ist ein durchaus robustes Organ, das auch größere Belastungen ohne bleibende Schäden überstehen kann.

Wir stellen an die Singstimme im Vergleich zum Alltags-Stimmgebrauch allerdings hohe und spezielle Anforderungen. Umfang, Kraft, Volumen, Beweglichkeit, Vielfarbigkeit sind in außerordentlichem Maß gefordert, das bedingt einen speziellen Umgang mit der Stimme und eben auch außergewöhnliche Belastungen.

Eine Überlastung wirkt sich bei der Singstimme schneller und stärker aus, wird früher als Einschränkung wahrgenommen.

Wie bildet man die Sing-Stimme im Sinne dieser Anforderungen aus?

Essentiell ist ein sinnvoller und altersgemäßer Aufbau der Stimme -selbst bei außergewöhnlichen Stimmbegabungen ein Weg über viele Jahre.

Wir Sänger stellen ja in der Musikwelt den Sonderfall dar, dass wir nicht nur den technischen und musikalischen Umgang mit unserem Instrument lernen, sondern gleichzeitig das Instrument selbst auf- und ausbauen müssen, ein Instrument, das zudem beispielsweise bei den tieferen Männerstimmen erst zwischen 25 und 30 überhaupt ausgewachsen ist.

Wachsendes technisches Vermögen und sinnvoll gesteigertes Training des Singe-Apparates lassen die Stimme in Volumen und Umfang wachsen, die gewachsene Stimme wiederum wird belastbarer und besser beherrschbar.

Es gibt für diese Entwicklung keine Abkürzung und dieser Weg ist immer individuell, es gibt keinen Masterplan, keinen festgelegten Ablauf oder eine auf alle anwendbare Methode. Das heißt, es braucht manchmal auch Zeit, die nächste richtige Abzweigung zu finden.

Die Grundzüge einer Gesangsausbildung bestehen aus drei Bereichen:

  • Dem Erlernen des technischen Umgangs mit dem Instrument Stimme und damit verbunden dessen Entwicklung, also Beherrschung des Atems und der Nutzung der Resonanzräume, Artikulation und ausgeglichene Vokalisation in allen Lagen und dynamischen Bereichen, Entwicklung von Volumen, Umfang und Beweglichkeit der Stimme.
  • Dem Erlernen des musikalischen Handwerks, also Phrasierung, musikalische Artikulation, Umgang mit Dynamik, Agogik, Parlando, Koloratur etc.
  • Der Integration musikalisch gestalterischer und darstellerischer Aspekte, denn das technische Handwerk ist ja nur Mittel zum künstlerischen Zweck, also das Erschließen einer Figur, einer Rolle, das Suchen nach Farben und Ausdrucksmöglichkeiten, das Kreieren von Stimmungen, das Stärken der Imagination etc. Ein Entwicklungsprozess über Jahre!

Wo liegen Gefahren für diesen stimmlichen und künstlerischen Entwicklungsprozess?

An erster Stelle natürlich bei uns Sängern selbst. Wir wollen singen! Wir wollen nicht geduldig und nicht vorsichtig sein und auch nicht unbedingt vernünftig.

Wir haben alle bestimmte Stücke oder Partien, die zu singen wir uns erträumen, Bühnen und Konzertsäle, die wir erobern wollen – und am besten so bald wie möglich.

Wenn sich also die Möglichkeit ergibt, ist es manchmal sehr schwer zu sagen: „noch nicht“ oder „das für mich leider gar nicht“ oder zu sehen, in diesem Zeitraum lässt sich das Angebot, das jetzt noch dazu kommt, nicht mehr seriös vorbereiten.

Aber die Probleme beginnen schon früher:

Hochschulen haben, insbesondere hier in der Schweiz, immer weniger Geld und damit weniger Zeit und Intensität für die Ausbildung in den Kernfächern.  Gleichzeitig steigt der Druck sich zu profilieren – nach innen wie nach außen, Hochschulen werden so

nicht nur zu Ausbildungsstätten, sondern immer mehr auch zu Konzertveranstaltern. Das birgt wunderbare Möglichkeiten für die Studierenden, aber eben auch die Gefahr, dass der künstlerische Output wichtiger wird als der individuelle Lernprozess.

Die Modularisierung im Rahmen der Bologna-Reform stellt meines Erachtens eine weitere Erschwernis dar, gerät doch manchmal über dem Sammeln von ECTS und spezialisierten Einzelkompetenzen in den Hintergrund, dass eine künstlerische Ausbildung ein dauerhafter und stetiger technischer, musikalischer und persönlicher Entwicklungsprozess ist.

Schwierigkeiten für junge Sänger/innen beim Berufseinstieg kann ich hier nur streifen:

  • Die Schnelllebigkeit des heutigen Musikmarktes, in der Terminplanung und Repertoirewahl teilweise fremdbestimmt sind, eine individuelle künstlerische Entwicklung oft im Hintergrund steht
  • Spardiktate und daraus entstehende Besetzungspolitik von Opernhäusern
  • Kann ich in einem Anfänger-Vertrag nein sagen zu falschem Repertoire oder überlastenden Dienstplänen?
  • Fragen der Balance zum Orchester (zu laut oder nur laut? zu eindimensional?) und daraus resultierende stimmliche Überlastungen
  • Repertoireprobleme im Hinblick auf eine zunehmende Bedeutung von optischen vor stimmlichen Qualitäten, Jugendwahn vor stimmlicher Reife (Bühnennaturalismus durch Fernsehen und DVD befeuert),
  • Besetzungsprobleme: wie schwer, wie leicht werden Partien besetzt

Was kann man als Gesangspädagoge in diesem Umfeld tun?

Neben der Arbeit an einer gesunden Stimmtechnik, einem guten Repertoire-Fundament, am seriösem Aufbau und der Entwicklung der Sängerpersönlichkeit, und dem Appell an die Geduld für diesen Prozess, geht es, glaube ich, vor allem um folgendes:

Jeder Sänger ist verschieden und damit verschieden belastbar.

Daher ist es wichtig, ein Sensorium für den eigenen Körper und seine Möglichkeiten, eine gesunde Selbsteinschätzung, also eine Art eigenes Stimmgewissen zu entwickeln und so die Selbstverantwortung zu stärken.

Denn im Beruf können schlussendlich nur wir selber wissen, wie es um uns steht, ob wir einen Rat brauchen und wem wir da vertrauen, ob wir eine Partie singen oder nicht singen können, ob wir einen Arzt brauchen, eine Gesangsstunde oder einfach eine Pause.

In dem ganzen Komplex der Robustheit und des – dramatisch formuliert – Überlebens des eben doch fragilen Instrumentes Stimme möchte ich aber einen Aspekt nicht beiseitelassen, nämlich das Lob dieser Fragilität.

Man sagt, die Stimme sei der Spiegel der Seele.

Das bedeutet, dass wir als Sänger auch den zerbrechlichen Teil der Seele hörbar machen sollten.

Wenn in Schumanns Eichendorff-Zyklus der Himmel die Erde still küsst, wenn Gilda sich zum ersten Mal einen (wenn auch falschen) Namen für ihre Verliebtheit auf der Zunge zergehen und im Herzen widerklingen lässt, wenn Pamina in Verlassenheit den Tod wünscht, Philipp  erkennt, dass er nicht geliebt wurde oder in der Matthäus Passion Petrus bitterlich weint, sind das Momente, die uns in besonderer Weise nahe gehen, in denen diese Fragilität transportiert wird.

Eine Stimme, der man sozusagen Hornhaut aufgezogen hat, damit sie nur möglichst laut und robust über jedes Orchester kommt und den Widerständen des Sängerlebens trotzt, wird zu den Farben der Fragilität, der Verletzlichkeit kaum fähig sein.

Deswegen:

Lasst uns der Zerbrechlichkeit Raum geben, als Dirigenten, Operndirektoren, Agenten und Gesangslehrer, damit wir auch weiterhin angerührt werden können von diesen besonderen Momenten unserer Gesangsliteratur

nach oben